GENiAL 2-2018

20 | GENiAL | 2-2018 Foto: Nina Muska, Illustration: EmikoTannako Herr Dr. Martens, 200 Jahre nach sei- nem Geburtstag ist Raiffeisen noch immer in aller Munde. Was ist das Verdienst dieses Mannes? MARTENS: Wenn wir uns in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückversetzen, dann müssen wir sehen, dass es neben der Industrialisierung mit ihren Chancen einen enormen Bevölkerungszuwachs gab, mit dem weder die landwirtschaftliche Produktion noch die Bereitstellung von Arbeitsplätzen in den neuen Industrien Schritt halten konnte. Die Folge waren insbesondere nach Missernten Hungersnot, Massenelend und Massenauswanderung. Friedrich Wilhelm Raiffeisen hat mit seinen Ideen wesentlich zur Entwicklung des ländlichen Raums beigetragen und damit Lebensperspektiven für viele Millionen Menschen geschaffen. Raiffeisen galt als christlich- konservativ und war stark vom Protestantismus des 19. Jahrhunderts geprägt. Trotzdem wurde er zu einem der wichtigsten Initiatoren eines heute immer noch hochmodernen Finanzverbundes. Wie passt das zusammen? Gerade weil Friedrich Wilhelm Raiffeisen tief in den Wertvorstellungen des Protes- tantismus verwurzelt war, sah er es als seine Aufgabe an, der Verelendung großer Teile der Bevölkerung entgegenzutreten und nach Lösungen zu suchen. Das im Mittelalter im Christentum ausgeprägte Zinsverbot spielte keine Rolle mehr. Es ist auch nicht der Grund dafür, dass es an Strukturen für den Geldverkehr fehl- te. Es war einfach nicht lukrativ, auf dem Land eine Bank zu eröffnen, wo das Elend herrschte. Hier setzte Raiffeisen erfolgreich auf die Idee der genossenschaftlichen Selbsthilfe. Vor Ort taten sich die Menschen zusammen, gründeten einen Kreditverein und ermöglichten so auch das Sparen von Kleinstbeträgen und die Ausgabe von Kleinkrediten. Dass sich das Modell der Raiffeisenbanken auf ganz Deutschland ausdehnte, zeigt die ganze Innovationskraft der Idee. Die Kreditgenossenschaften wurden damit zum Motor der Modernisierung der Landwirtschaft in Deutschland. Durch die Konzentration auf die Region und die daraus resultierende örtliche Verbundenheit ist das Modell bis heute erfolgreich geblieben. Neben seinen Präferenzen für eine zentralistische Organisation führte auch die starke Betonung christlicher Werte zu Streit mit dem Genossen- schaftsgründer Hermann Schulze- Delitzsch und zur Abspaltung ländlicher Genossenschaften unter Wilhelm Haas. Was bedeutete das für die damals noch junge Raiffeisen- Organisation? Alle drei waren starke Persönlichkeiten. So war es offenbar unmöglich, unter ei- nem Dach zusammenzuarbeiten. Her- mann Schulze-Delitzsch hatte als Wirt- schaftsliberaler ganz andere politische Ziele und konzentrierte sich auf gewerb- liche Genossenschaften in den Klein- und Mittelstädten. Schmerzhafter war schon die Abspal- tung unter Haas. Dieser agierte flexibler und handelte weniger dogmatisch, heute würde man sagen am Kunden orientiert, sodass seine Organisation deutlich mehr Zulauf hatte. 1928 gehörten der Haas- Richtung gut 26.000 Genossenschaften an, mehr als dreimal so viele wie dem Raiffeisen-Verband. Nach dem Tod von „Raiffeisen hat Lebensperspektiven für vieleMillionenMenschen geschaffen“ GENiAL sprach mit Dr. Holger Martens, Vorstand der Historiker-Genossenschaft eG, über die Bedeutung des Protestantismus für das Werk des Genossenschafts- gründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Historiker Dr. Holger Martens hat eine Reihe von Publikationen zur Genossenschaftsgeschichte herausgegeben: E-Mail: h.martens@historikergenossenschaft.de www.historikergenossenschaft.de

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