Andriy Pastushenko ist der Direktor von "Dnipro", einem Agrarbetrieb in der Region Kherson, 25 Kilometer vom regionalen Zentrum mit dem gleichen Namen entfernt. Am 10. März hatten russische Soldaten die Region und seinen Betrieb besetzt. Nach genau acht Monaten, am 10. November, konnten die ukrainischen Streitkräfte einen Teil der Region und damit auch das Agrarunternehmen wieder befreien. Diese gute Nachricht erreichte Pastushenko auf einer Reise nach Deutschland. Hier wollte er Geländewagen kaufen, die das ukrainische Militär dringend braucht. Nachdem die Region, in der sein Betrieb wirtschaftet, vom russischen Militär eingenommen worden war, ist Pastushenko in den freien Teil der Ukraine geflohen. Wie viele seiner ebenfalls geflüchteten Kollegen unterstützte er von dort die ukrainischen Truppen, sammelte Geld und kaufte Ausrüstung für sie.
Unsere ukrainische Kollegin Anastasia Buchna traf Pastushenko im November auf der internationalen Messe EuroTier in Hannover. Dort sprach er als Mitglied des Verbandes ukrainischer Milcherzeuger über die Herausforderungen der ukrainischen Landwirtschaft in Kriegszeiten.
Genossenschaften für den Wiederaufbau
Wie viele seiner Kolleg*innen glaubt Andrij Pastushenko, dass die ukrainische Landwirtschaft mit Hilfe von Genossenschaften eine Chance hat, sich nach dem Krieg zu erholen und weiterzuentwickeln. Er betont, wie wichtig für ihn und seine Kolleg*innen die genossenschaftlichen Erfahrungen aus Deutschland, Österreich und Polen seien. Da die ukrainischen Milchkonzerne die Milchpreise drückten, hätten sich die Landwirte zusammengeschlossen, um höhere Preise für ihre Milch zu erzielen. Der Firmenchef: „Jetzt sind wir so weit, dass wir Genossenschaften aufbauen können. Ich bin mir sicher, dass dies die Zukunft ist, vor allem in der Milchviehhaltung. Investitionen in genossenschaftlich organisierte Verarbeitungsbetriebe werden immer relevant und für lange Zeit rentabel sein.“
Der nach ukrainischen Maßstäben mittelgroße Agrarbetrieb von Pastushenko bewirtschaftet 1.500 Hektar Land. Dazu gehört auch ein Milchviehbetrieb, der zu Kriegsbeginn 380 Milchkühe und mehr als 400 Kälber zählte. 76 Arbeitskräfte sind dort beschäftigt. Gründer und Besitzer des Agrarbetriebes sind deutsche Bürger*innen, die an die Zukunft der ukrainischen Landwirtschaft glauben und dort deshalb vor 15 Jahren investiert haben. Pastushenko erzählt, wie gut er mit seinen deutschen Investor* zusammenarbeitet und wie groß ihre Solidarität ist. Zum einen schenkten sie ihm als Geschäftsführer ihr volles Vertrauen und ließen ihm volle Handlungsfreiheit, zum anderen ließen sie alle Gewinne im Betrieb, damit investiert werden könne. Der Betriebschef: „Als der Krieg begann, sagten sie zu mir: Mach, was Du willst, aber sorge dafür, dass es den Arbeiter*innen gut geht. Außerdem glaubten sie mir, dass bald wieder die ukrainische Flagge über dem Betrieb wehen würde.“
Der landwirtschaftliche Betrieb arbeitete auch während der Besatzungszeit
In den ersten Tagen des russischen Einmarsches säten die Landarbeiter noch Gerste aus und schafften es sogar, Milch an die Milchverarbeitungsanlage in Mykolajiv zu liefern. Auch der Direktor arbeitete zunächst normal weiter. Als dann aber an einem Nachmittag 52 russische Hubschrauber über ihn hinwegflogen, wurde ihm klar, „dass es sich wirklich um einen ausgewachsenen Krieg handelt“. Zwei Wochen später, nachdem die Russen seinen Betrieb und das zugehörige Dorf besetzt hatten, brachte er sich, seinen Sohn und die Kinder seiner Mitarbeiter*innen in Sicherheit. Ihm war klar, dass er um sein Leben fürchten musste, weil er das ukrainische Militär unterstützt hatte. Eigentlich wollte er trotz der Gefahr wiederkommen, aber das Schicksal wollte es anders: Er musste seinem Betrieb wegen des Krieges acht Monate fernbleiben.
Seine Stellvertreterin leitete den Betrieb weiter. Weil die 50-jährige Frau früher Bürgermeisterin des Dorfes war und alle Menschen und die Situation dort gut kannte, wurde sie vom russischen Militär zur Zusammenarbeit gezwungen. Dreimal saß sie deshalb im Gefängnis, einmal davon für lange 16 Tage.
Da der Betrieb keine Milch mehr an Großunternehmen liefern konnte, mussten die Mitarbeiter*innen bei der Verarbeitung und Vermarktung ungewöhnliche Wege gehen. Der Direktor: „Wir überlebten dank der Tierhaltung und der Tatsache, dass wir weiterarbeiteten. Da wir der wichtigste Milchprodukte-Lieferant für Kherson waren, haben wir die Milch in den ersten Wochen mit Hilfe der Kirchen kostenlos an die Menschen verteilt.“ Später arbeitete der Betrieb mit Bierläden zusammen, die die Milch in Fässern abfüllten und an die Bevölkerung verkauften.
Da bald Futter fehlte, sank die Milchmenge der Kühe von 10 auf 3,5 Tonnen. Immer mehr kranke Tiere mussten außerdem geschlachtet werden, weil es keine Tierarzneimittel mehr gab. Aus den Gewinnen der Besatzungszeit finanzierte der Betrieb die Treibstoffkäufe und die Gehälter aller Mitarbeiter*innen, auch wenn sie geflohen waren. Ohne Gas, Wasser und Strom arbeitete der Betrieb nur mit Hilfe von Generatoren weiter und lieferte Milch nach Kherson. Damit der Weizen nicht für den niedrigen Preis von 50 Dollar pro Tonne an die Besatzer verkauft werden musste, verteilte das Agrarunternehmen das Getreide an seine Landverpachter.
Russische Militärregierung zwingt zur Zusammenarbeit
Der Agrarbetrieb Dnipro lag eine Zeit lang nur eine Straße von der Frontlinie entfernt, erzählt der Direktor: „Ja, es gab Angriffe auf uns. Aber weder ein Mensch noch ein Tier ist bei uns getötet worden. Wir haben trotz des Beschusses und vieler Anfeindungen weitergearbeitet. Einige unserer Leute wurden von den Russen gefoltert: Ihnen wurden Finger abgeschnitten. Aber alle haben überlebt.“
In den besetzten Gebieten zwang das russische Militär die Landwirte und landwirtschaftlichen Betriebe, darunter auch Dnipro, sich nach russischem Recht zu registrieren. Vertreter der militärischen Besatzungsverwaltung riefen außerdem mehrmals bei Andriy Pastushenko an und verlangten seine Rückkehr in den Betrieb. „Als ich sagte, dass ich nicht kommen würde, drohten sie mir, den Betrieb zu verstaatlichen. Ich wies sie darauf hin, dass sie dann auch die Verantwortung für alle Tiere sowie für 76 Angestellte und 500 Eigentümer*innen von Grundstücken übernehmen müssten. Danach haben sie nicht wieder angerufen.“ Die Besatzer brachten dann Investoren mit, die den Betrieb angeblich kaufen wollten, dann aber wegen der Frontnähe kein Interesse mehr zeigten.
Der Betriebsleitung saß die Anweisungen der Russen einfach aus und konnte so eine Neuregistrierung nach russischem Recht vermeiden. Außerdem unterstützten die Mitarbeiter*innen auch weiterhin die ukrainische Armee und meldeten ihr die Koordinaten der gegnerischen Stellungen.
Freude über die Befreiung und große Probleme
Nach der Befreiung des Teils der Region Kherson, der am rechten Ufer des Dnipro liegt, atmeten die Bewohner*innen auf. Doch die Lage bleibt schwierig, denn die Beschüsse des russischen Militärs auf die Bevölkerung und die systematische Zerstörung der Infrastruktur gehen weiter.
So gibt es seit mehreren Wochen weder Strom noch Gas im Betrieb. Zwei Generatoren sorgen dafür, dass der Betrieb läuft und das Melken möglich ist. Lastwagen sammeln die Milch ein und verkaufen sie an die Molkereien. Doch der Direktor fürchtet „eine Katastrophe“, wenn die Generatoren eines Tages ausfallen würden. Den Dieseltreibstoff für die Generatoren sowie weitere landwirtschaftliche Geräte musste das Unternehmen während der Besatzung von den Russen kaufen, die diese wiederum aus der Ukraine gestohlen hatten. „Ich habe lange überlegt, ob ich den Treibstoff vom russischen Militär kaufen sollte“, sagt der Betriebschef. „Aber es gab gute Gründe: Zum einen nahmen wir dem Militär so seine Treibstoffreserven weg und konnten es schwächen. Zum anderen kauften die russischen Soldaten mit dem Geld in unseren Läden Lebensmittel. Hatten sie kein Geld, beraubten sie einfach die Verkäufer.“ So kaufte das Agrarunternehmen während der Besatzungszeit mehr als 100 Tonnen Treibstoff von russischen Soldaten, vergrub sie im Heu oder versteckte sie irgendwo auf dem Betriebsgelände.
Vorbereitung auf den Winter
Zurzeit bereitet sich der Agrarbetrieb auf den Winter vor und sichert die Strom-, Gas- und Wasserversorgung. Das Unternehmen säte, erntete und lagerte Winterweizen und Mais ein, beschaffte Futtermittel und stellte Silage her. Außerdem säten die Landarbeiter*innen neues Wintergetreide auf 700 Hektar Land aus. Große Sorgen bereiten Pastushenko jedoch die verminten und zerbombten Felder: „Ein Teil der Ernte auf unseren Feldern ist verbrannt, ein Teil zerbröselt. Es gibt so viele Granaten, dass es unmöglich ist, dort noch zu arbeiten. Es wird den ganzen Winter dauern, die Felder zu entminen.“
Text: Anastasia Buchna / Sabine Bömmer
Fotos: Andriy Pastushenko